Vom Sinnverstehen, und was Diäten mit agilen Arbeitsweisen zu tun haben

„Wir machen jetzt Agile!“

Ich vermute, diesen Satz haben Sie in den letzten Monaten schon gehört.

„Wir machen jetzt Agile!“ oder auch „Wir müssen neuerdings Agile machen!“

Rein grammatikalisch betrachtet: Welche Art Satz soll das denn sein? Ist das unsere deutsche Grammatik, auf die wir alle so großen Wert legen? Das kann nur noch gesteigert werden durch „Ey lass uns doch mal Agile machen …. Alder!“ Über genau solche Redensarten regen sich aktuell so viele auf. Unsere deutsche Muttersprache, die uns allen doch so heilig ist und um die Gott und die Welt bangen. Und plötzlich sitzen sogar die Top Manager aus Wirtschaft und Industrie zusammen und reden davon, dass sie jetzt Agile machen.

Es mag kleinlich klingen, aber allein daran ist bereits zu erkennen, dass viele dieser Personen gar nicht wissen, von und über was sie sprechen. Sicherlich unbewusst wird aus dem Adjektiv agil das Nomen Agile gebastelt. Genau darin liegt jedoch der immense Unterschied. Als Adjektiv beschreib dieses kleine Wort wie ich bin oder wie etwas ist. Als Nomen hingegen – insbesondere so ganz ohne bestimmten Artikel der/die/das – wird es als Methode oder auch Framework verkauft.

Und schon sind wir genau dort angelangt, wo wir doch gar nicht hin möchte, denn

… doing Agile ≠ being agile.

Während das Wort agil vor 10 Jahren nur im Zusammenhang mit Senioren verwendet wurde, ala

„Ach die Frau Schmidtbauer. Die Frau Schmidtbauer aus der Jahnstraße, die ist am Sonntag 85 geworden. Und stell dir vor, die ist noch sooo agil!“,

ist heute alles und jeder agil. Oder muss es sein. Zumindest laut der Aussage von Horst Wildemann (2018) „Nur die Agilen werden überleben“. Wir scheinen also ein neues Wundermittel entdeckt zu haben. Agile wird uns alle retten! Ja! Ich denke, agile Arbeitsweisen können wirklich als eine Art Wundermittel betrachtet werden. Das tückische an diesem Wundermittel ist jedoch, dass es zwei Arten gibt. Das doing Agile und das being agile.

Ja! Ich denke, agile Arbeitsweisen können wirklich als eine Art Wundermittel betrachtet werden. Das tückische an diesem Wundermittel ist jedoch, dass es eben diese zwei Arten gibt. Das doing Agile und das being agile. 

Wenn ich meinen Studenten Themen verständlicher erklären möchte, versuche ich dies meist mit Hilfe von Beispielen aus dem Alltag. Damit wird es für die meisten greifbar, es entstehen Bilder im Kopf und diese prägen sich besser ein als Fachbegriffe, Zahlen oder Definitionen. Reden wir von Wundermitteln oder Wunderwaffen, dann gibt es ein Thema, welches mir sofort in den Sinn kommt. Diäten!

In kaum einer anderen Branche werden so viele Dinge als Wundermittel angepriesen. Wir müssten nichts an unserem bisherigen Lebensstil ändern und lediglich 5x täglich 3 Pillen schlucken. Dadurch würden wir super schlank und zudem verbesserten sich Haare und Haut. Oder wir trinken Shakes. Dabei müssten wir keine anstrengenden Kochstrapazen auf uns nehmen und könnten ganz entspannt und Shake schüttelnd in den Tag starten. Die Kilos würden nur so purzeln. Hand aufs Herz. Klingt das nicht verlockend? Geringer Einsatz bei enormem Ergebnis?

Neben dieser Art von Wunderwaffen gibt es noch eine weitere. Allerdings ist diese nicht ganz so bequem, denn sie fordert Geduld, Disziplin und Zeit. Gesunde Ernährung und viel Bewegung, so wird dieses Diät-Wundermittel genannt.

Und schon stehe ich vor der Entscheidung. Welches dieser beiden Wundermittel wähle ich denn jetzt? Ich würde lügen, wenn ich selbst nicht schon einmal die Variante 1 gewählt hätte. Wir alle scheuen Veränderungen. Veränderungen bringen Unsicherheiten mit sich. Und wenn ich diese Unsicherheiten umgehen kann und mir jemand verspricht, dennoch ans Ziel zu gelangen, dann geh ich diesen – oftmals zu einfachen – Weg.

Gemein und fast hinterhältig daran ist, dass die Wunderdiät anfangs funktioniert. Ich verliere wirklich ein paar Pfunde – ganz ohne Anstrengung. Darüber freue ich mich wie eine Schneekönigin. Bis der Effekt plötzlich nachlässt und ich den Grund dafür überhaupt nicht verstehe. Immerhin habe ich selbst doch nichts geändert. So, wie man es mir gesagt hat. Wie kann es denn dann sein, dass sich tatsächlich gar nichts ändert?

Ab wann sind wir bereit, Verhaltensweisen, Prozesse und uns selbst zu ändern?

Wenn es für uns Sinn ergibt.

Sonntagabend. Mein Lebensgefährte und ich haben es uns auf der Couch gemütlich gemacht und ich freue mich, die heutige SchnickSchnackSchnuck-Challenge gewonnen zu haben. Ich darf „den Tatort“ schauen. Zu meinem Tatort-Ritual gehören Chips. Ähnlich wie es sich im Kino mit der Popcorn Tüte verhält, wird auch die Chipstüte bereits vor Beginn der Sendung geöffnet und munter gefuttert. Währenddessen nutzt mein Lebensgefährte die Zeit und zappt durch die TV-Sender von Werbeblock zu Werbeblock. Er bleibt beim Werbespot einer führenden deutschen Sportbekleidungsmarke hängen. Zwei junge, natürlich sportliche Frauen joggen entspannt am Feldrand in Richtung Sonnenuntergang und lächeln, als lägen sie gerade im Beach Club mit einem Gin-Tonic in der Hand. Beide tragen enganliegende Hosen mit schräg angeordneten, transparenten Einsätzen auf Oberschenkeln und Waden.

„Ich glaube, die Hose würde dir auch stehen, wenn du noch so trainiert wärst wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Du müsstest nur wieder ein bisschen mehr Sport machen.“

Mein Kopf dreht sich langsam nach rechts, um demonstrativ und genüsslich in die Chipstüte zu greifen und allein durch mein Hochziehen der Augenbrauen ein „du kannst mich mal“ zu senden. Ja, natürlich war ich vor einigen Jahren sportlicher. Gar nicht mal unbedingt viel schlanker, sondern durchtrainiert und drahtig. Der würde sich umschauen, wenn ich jeden Abend beim Sport wäre und er sich ums Essen kümmern müsste. Man kann eben nicht alles haben.

Ebene 1: Ich bekomme den Sinn verordnet.

Einige Wochen nach diesem Abend bin ich bei meinem Hausarzt, um die Ergebnisse des jährlichen Check-ups zu besprechen. Blutwerte, Belastungs-EKG und Co.

„Du wirst es mir hoffentlich nicht krummnehmen, aber du warst definitiv schon fitter. Keine Angst, keiner deiner Werte ist schlecht oder im unteren Durchschnitt, aber es war eben schon mal besser.“

Ulrich (wir sind per Du, da wir uns seit vielen Jahren durch gemeinsame Sport-Events kennen) lehnt sich auf seinem Chefsessel zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schaut mich erwartungsvoll an. Mehr als ein seufzendes „Ich weiß, ich weiß, aber ich komme einfach nicht dazu. Entweder ich bin auf Dienstreisen, oder ich stecke bis zum Abend in Meetings.“ Er beugt sich aus seiner zurückgelehnten Position zu mir nach vorne.

„Nina, das sollte kein Vorwurf sein. Du bist körperlich in gute Form. Du solltest dir nur ab und an vor Augen halten, was du dir und deinem Körper abverlangst. Immer schneller, immer weiter und immer höher. Und damit meine ich nicht nur den Sport, sondern den Beruf, die Familie und all das Drumherum. Und zudem ist es nicht gerade so, als würdest du ab und an mal Radfahren gehen oder in einen Bauch-Beine-Po-Kurs. Nein, dann rennst du die Berge rauf, oder springst aus einem Flugzeug oder tauchst in Höhlen ohne Sauerstoff. Und genau das geht auf Dauer nicht.“

Vermutlich merkt er, dass ich nun doch etwas nachdenklich werde und ich ihn vielleicht auch ein wenig entsetzt anschaue.

„Du kannst mit deinem Fitnesslevel 90 Jahre alt werden und gute Leistungen beim Sport bringen. Ganz vorne mitzulaufen kannst du aber einfach nicht erwarten. Entweder du fährst die Erwartungen an deine Leistung runter, oder du trainierst dich wieder auf ein Level, welches deinen aktuellen Erwartungen entspricht. Nur wer fit und agil bleibt, kann Leistungen bringen.“

 Ebene 2: Ich bekomme den Sinn vermittelt und die Sache klingt zumindest logisch.

Anfang Mai findet der erste Trail-Run des Jahres statt, zu dem ich uns angemeldet habe. Der Mountainman in Nesselwang. Der Besuch bei meinem Hausarzt Ulrich ist ca. 8 Wochen her. Trainiert habe ich seither nicht wirklich. Ich werde dennoch mitlaufen. Wird schon gut gehen.

Früh am Morgen versuche ich in meine Laufhose zu „schlüpfen“. Die Aktion entpuppt sich jedoch eher als ein Hineinquetschen als ein Hineinschlüpfen. Ich ziehe die Hose einigermaßen zurecht und meine Laune sinkt. Ich bin genervt. Zudem hat es nachts geschneit und zum Zeitpunkt des Starts um 7:30 Uhr regnet es in Strömen. Prima … ich bin begeistert. Die Strecke ist mir völlig unbekannt und ich war tatsächlich so nachlässig – arrogant wäre passender – mir das Streckenprofil anzuschauen. Lediglich auf meiner Startnummer ist das Profil aufgedruckt und ich kann erkennen, dass es direkt zu Beginn steil bergauf geht. Und zwar richtig. 1050hm auf einer Strecke von 3km. Der Schnee und die vereisten Wurzeln auf den Single-Trails machen die ganze Sache nicht besser. Die Hose kneift. Oberschenkel und Lunge brennen wie Feuer und, weshalb auch immer, habe ich mir schon jetzt eine Blase an der linken Ferse gelaufen. Mein persönliches Ziel für heute: überleben. Konzentrieren, einatmen, ausatmen, in mich hineinfluchen, sauer sein über die eigene Dummheit, einatmen, ausatmen.

Für gewöhnlich ist mein Lebensgefährte derjenige, den ich ermutigen und mitziehen muss. Heute bin ich mit mir beschäftigt und sogar ein wenig froh darüber, dass auch er zu kämpfen hat und im gleichen Tempo hinter mir läuft. Plötzlich höre ich eine fröhlich klingende, weibliche Stimme von hinten.

„Achtung, nicht erschrecken, ich überhole nur schnell.“

Mit diesem Satz springt ein gazellenartiges Wesen an uns vorbei. Lächelnd, mit einem hellblauen Trinkbecher wedelnd und – jetzt wird es richtig mies – mindestens 10 Jahre älter als ich. Und wenn ich es schon so explizit erwähne, muss ich Ihnen sicherlich nicht sagen, welche Hose sie anhatte. Trotz meiner lebensbedrohlichen Lage konnte ich noch ein „Ich möchte jetzt keinen Ton von dir hören.“ nach hinten schmettern, um meinen Lebensgefährten vor seinem sicheren Tod zu bewahren.

Und plötzlich ist er da. Der Moment, in dem alles Sinn ergibt. Was mein Lebensgefährte gemeint hat, was mein Hausarzt gesagt hat und so einiges, was mir vermutlich auch selbst recht klar war, ich aber nicht wahrhaben wollte. Ich werde wahrscheinlich ins Ziel kommen, wenn ich mit dem Strom mitlaufe. Ohne Disziplin, Training und Geduld werde ich jedoch nie unter den schnellsten 10 Läufern ins Ziel kommen.Und plötzlich ist er da. Der Moment, in dem alles Sinn ergibt. Was mein Lebensgefährte gemeint hat, was mein Hausarzt gesagt hat und so einiges, was mir vermutlich auch selbst recht klar war, ich aber nicht wahrhaben wollte. Ich werde wahrscheinlich ins Ziel kommen, wenn ich mit dem Strom mitlaufe. Ohne Disziplin, Training und Geduld werde ich jedoch nie unter den schnellsten 10 Läufern ins Ziel kommen.

Ebene 3: Ich habe den Sinn selbst verstanden.

Und plötzlich ist er da. Der Moment, in dem alles Sinn ergibt. Was mein Lebensgefährte gemeint hat, was mein Hausarzt gesagt hat und so einiges, was mir vermutlich auch selbst recht klar war, ich aber nicht wahrhaben wollte. Ich werde wahrscheinlich ins Ziel kommen, wenn ich mit dem Strom mitlaufe. Ohne Disziplin, Training und Geduld werde ich jedoch nie unter den schnellsten 10 Läufern ins Ziel kommen.

„Ich werde wahrscheinlich ins Ziel kommen, wenn ich mit dem Strom mitlaufe. Ohne Disziplin, Training und Geduld werde ich jedoch nie unter den schnellsten 10 Läufern ins Ziel kommen.“

Wenn Ihnen mal wieder jemand über den Weg läuft, der Ihnen erzählt, man würde jetzt Agile machen, dann scheuen Sie sich nicht, diesen Text weiterzuleiten. Vielleicht verhilft er dem ein oder anderen – zumindest bis hin zur Ebene 2.

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